Media-Mania.de

"Eine 'griechische Tragödie', die in der heutigen Zeit spielt": Rolf Dobelli über seinen neuen Roman "Massimo Marini"
Interview mit Rolf Dobelli
Media-Mania.de: Herr Dobelli, soeben ist Ihr neuer Roman "Massimo Marini" erschienen. Während Ihre anderen Romane Lebensabschnitte eines Einzelnen zum Inhalt haben, wirkt dieses Buch fast wie eine komprimierte Familiensaga, in der es darum geht, wie eine arme italienische Einwandererfamilie – das Baby wird illegal in einem Koffer eingeschleust – zunächst mühsam Fuß fasst und sich dann hocharbeitet. Der Sohn soll es besser haben. Dieser aber scheitert auf der Höhe seiner Karriere auf ganzer Linie. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Roman?

Rolf Dobelli: Zuerst war mir die Figur des Massimo Marini klar. Ich wollte keine Migrantenstory per se und kein politisches Buch schreiben. Ich wollte diese Figur schildern, die in sie verstrickt ist, also den jähen Aufstieg und den Fall des Massimo Marini.
Dabei war mir relativ früh klar, dass Massimo Marini ein Secondo sein muss. So nennen wir die zweite Generation der Fremdarbeiter. In Deutschland spricht man von Gastarbeitern. Und dann war klar, dass ich diese Zeit schildern musste: die 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahre. So kam ich zu dem Thema. Aber, wie gesagt, es war nicht meine Absicht, ein Migrationsbuch zu schreiben. Das Immigrationsthema ist Backstory.

Media-Mania.de: Sie haben, Mitte der 60er-Jahre geboren, natürlich nicht diesen gesamten Zeitraum erlebt. Haben Sie auch Fremdarbeiter befragt?

Rolf Dobelli: Ja, ich habe einige befragt. Die 70er-Jahre habe ich bewusst erlebt. Ich bin in einem Ort aufgewachsen, der auch im Roman vorkommt, Emmenbrücke, der Ort mit dem höchsten Ausländeranteil in der Schweiz. Daher kenne ich die Stimmung, die damals herrschte. Es gibt viele gute Filme. Das Schweizer Fernsehen hat sie in den 80er-Jahren gedreht, und dort bekommt man ein gutes Bild, wie die Einwanderungspraxis abgelaufen ist.
Natürlich habe ich meine Eltern über die 50er-und 60er-Jahre befragt und mich auch mit Secondi unterhalten. Außerdem gibt es hervorragende Geschichtswerke zu diesem Thema, aber literarisch ist das Thema bis jetzt noch Neuland. Das ist erstaunlich, denn wir Schweizer haben unsere restliche Vergangenheit eigentlich schon recht gut verarbeitet: In den 80ern kam unsere unrühmliche Rolle im Zweiten Weltkrieg zur Sprache. Ende der 80er hatten wir den Diskurs über die namenlosen Bankkonti. Aber die Fremdarbeiterthematik – dieser Diskurs steht noch an. Doch ich möchte noch einmal betonen: Massimo Marini ist kein Geschichtswerk, sondern ein Roman, bei dem die Handlungen des Personals im Zentrum stehen.

Media-Mania.de: Ihr Protagonist Massimo Marini gleicht den Hauptfiguren in Ihren anderen Romanen darin, dass er, zumindest bis zum Wendepunkt, beruflich erfolgreich ist, ein geschickter und charismatischer "Macher", der Sie, wenn man Ihren beruflichen Werdegang betrachtet, ja ebenfalls sind. Wie viel von Ihnen steckt in Massimo Marini? Kennen Sie auch den Vater-Sohn-Konflikt, wie er im Roman ausgetragen wird?

Rolf Dobelli: Nein, ich habe nie rebelliert. Ich war immer ein anständiger, angepasster Sohn [schmunzelt]. Von Massimo Marini steckt bei mir das Unternehmertum drin. Nicht der Angestellte wie in meinen anderen Büchern, wo ich einen Geschäftsführer dargestellt habe oder einen Marketing-Manager. Massimo ist wirklich ein Unternehmer, und das bin ich im Herzen auch, ich bin sehr gern Unternehmer. Massimo Marini ist ein Mann, der selber anpackt und aufbaut.
Was ich natürlich nicht erlebt habe oder zumindest noch nicht – vielleicht kommt es ja noch – [lacht], ist diese ganze griechische Tragödie, wo dann alles zerfällt.

Media-Mania.de: Ihr Name klingt italienisch – einen Migrationshintergrund haben Sie aber nicht?

Rolf Dobelli: Nein, meine Eltern sind beide Schweizer.

Media-Mania.de: Außer der massiven Spannung zwischen zwei Generationen Vater und Sohn, komplexen Wirrungen der Liebe und vielen zeitgeschichtlichen Details, die es zu recherchieren galt, spielen noch Elemente des Kriminalromans in Ihr Werk hinein. Wie lange haben Sie gebraucht, um ein Konzept des Romans zu entwerfen?

Rolf Dobelli: Drei Monate.

Media-Mania.de: Und wie lange haben Sie letzten Endes geschrieben?

Rolf Dobelli: Sechs Monate. Und dann noch mal drei Monate Überarbeitung nach Abgabe beim Verlag, die ganze Lektoratsarbeit. Also drei-sechs-drei. Alles in allem ein volles Jahr. Von April bis Juni der Plot, dann ein halbes Jahr Schreiben, wirklich täglich von früh bis spät schreiben, und dann Januar bis März für Diogenes Korrekturen und Ausfeilen mit der Lektorin.

Media-Mania.de: Und wie hat sich das mit Ihrer Arbeit als Unternehmer vertragen?

Rolf Dobelli: Für dieses Buch – es ist ja mein sechstes – habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Sabbatical genommen. Ohne diese Auszeit hätte ich es nicht geschafft, diesen Roman zu schreiben. So habe ich also ausnahmsweise das getan, was Schriftsteller normalerweise tun - wirklich nur schreiben.
Aber das Wichtigste sind die ersten drei Monate, also die Entwicklung der Geschichte. Ich schrieb die Szenen auf Kärtchen, legte sie auf den Boden, schrieb weitere Notizen dazu. Ich schob die Kärtchen herum, bis das ganze Wohnzimmer mit Notizen überstellt war und man fast nicht mehr darüber steigen konnte. Als ich mit meinen Notizen zufrieden war, schrieb ich ein fünfzigseitiges Dokument, eine Art Abstract dieses "Massimo Marini". Ich habe die Zusammenfassung weggelegt und bin zehn Tage in Urlaub gefahren. Danach las ich es, als ob es von einem Dritten geschrieben worden wäre. Wenn es mir nicht gefallen hätte, hätte ich den Roman nicht geschrieben.
Ich habe es also gelesen und dachte, das ist eine gute Geschichte. Dann begann ich mit der schwierigsten Szene, dann mit der zweitschwierigsten, der drittschwierigsten und so weiter, bis der Roman im Rohbau stand. Anschließend begannen die Überarbeitungen.

Media-Mania.de: Da Sie ja dieses Sabbatical genommen haben: Hatten Sie geplant, einen Roman zu schreiben, oder hatten Sie die Idee zum Plot, bevor Sie das Sabbatical in Erwägung zogen?

Rolf Dobelli: Es war eindeutig die Idee, einen Roman zu schreiben – eine gute Geschichte, einen Roman, wie ich ihn selbst gern lesen würde.

Media-Mania.de: Ihr Roman besticht nicht zuletzt durch die vielen teils sehr sorgfältig ausgearbeiteten Nebenfiguren, zum Beispiel die beiden Frauen im Leben des Massimo Marini, von denen eine schließlich seinen Untergang herbeiführt, und seinen Rechtsanwalt, scheinbar ein "Mann ohne Eigenschaften". Gab es reale Vorbilder für diese Figuren?

Rolf Dobelli: Eigentlich sind es drei Frauen, denn da ist noch Klara, die Massimo das Leben rettet, die sich für ihn vor den Zug wirft. Für Klara gab es ein Vorbild bezüglich ihres Aussehens und ihres Gehabes, ein ganz klares Vorbild, auch wenn sich keine Frau für mich vor den Zug gelegt hat [lacht].
Für Massimos erste Frau, Monika, gab es auch ein Vorbild. Und Julia ist ein Amalgam aus drei realen Frauen.

Media-Mania.de: Und der Rechtsanwalt, der die ganze Rahmenhandlung zusammenhält?

Rolf Dobelli: Der Wyss – nein, für ihn gibt es kein Vorbild. Aber Wyss ist die Gegenfolie zu Massimo Marini. Wyss erlaubte mir verschiedene Dinge. Die Geschichte hätte auch ohne ihn funktioniert, aber Wyss als Gegenfolie ermöglichte mir, den Massimo Marini stärker herauszuholen. Er scheut sich, Entscheidungen zu treffen und Beziehungen einzugehen – wirklich genau das Gegenstück zu Massimo.
Außerdem hat mir Wyss erlaubt, das Kriminalelement zu schärfen. Als Autor kann ich damit immer wieder in die Gegenwart springen und so die Spannungsbögen stärker herausarbeiten, als wenn ich einfach eine Familiensaga geschrieben hätte.

Media-Mania.de: Fremdenfeindlichkeit ist in der Schweiz wie in den meisten anderen europäischen Ländern immer wieder ein Thema. Sie greifen in "Massimo Marini" darauf zurück und erinnern an die unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der italienischen Fremdarbeiter Ende der 50er-Jahre sowie an ihre Diskriminierung und Ausgrenzung durch ihre Schweizer Mitbürger bis hin zur Gründung einer Anti-Italiener-Partei, was Sie, wie ich las, vor Ihren Recherchen gar nicht wussten …

Rolf Dobelli: Stimmt, das wusste ich nicht. Ein Herr Stocker hat sie 1963 gegründet …

Media-Mania.de: Möchten Sie die Gesellschaft für das Thema Fremdenfeindlichkeit sensibilisieren, oder dienen diese in Ihrem Roman verarbeiteten Fakten lediglich als Hintergrund für ein rein literarisch zu verstehendes Werk?

Rolf Dobelli: Das Zweite. Die Leute sind sensibilisiert, weil Fremdenfeindlichkeit seit vierzig Jahren ein Riesenthema ist und das die nächsten hundert Jahre auch bleiben wird. Ich wollte keinen politischen, sondern einen literarischen Roman schreiben, eine „griechische Tragödie“, die in der heutigen Zeit spielt.

Media-Mania.de: Sie haben etliche positive Kritiken für "Massimo Marini" erhalten, aber auch, wie ich sah, zumindest einen Verriss. Wie gehen Sie als Schriftsteller mit Verrissen um – trifft Sie das persönlich?

Rolf Dobelli: Ja, das trifft mich persönlich. Das schmerzt. Ich habe erst neulich mit Ingrid Noll und mit Martin Suter darüber gesprochen: Kein Autor kann das einfach so wegstecken. Da hat man so viel Zeit für diesen Roman geopfert, ein ganzes Jahr, zwei Jahre, drei Jahre. Und jemand schmiert innerhalb von wenigen Minuten einen billigen, undifferenzierten Artikel hin … Ja, kein Autor kann wirklich mit Verrissen umgehen. In meinem Fall ist es immer derselbe Rezensent, ein pensionierter Journalist aus Zürich. Egal, was ich veröffentliche, er ballert darauf los.

Media-Mania.de: Also ist es einfacher, als Unternehmer mit einer Baisse der Wirtschaft zurechtzukommen …

Rolf Dobelli: Viel einfacher. Eine Börsen-Baisse ist nicht persönlich, da steckt kein Herzblut drin. Die Finanzmärkte schießen nicht unter die Gürtellinie. Ich mag Rezensionen, selbst die negativen, solange sie sachlich sind und den Text betreffen.

Media-Mania.de: Kritiker heben oft – und zumeist lobend - Ihre künstlerische Nähe zu Max Frisch hervor. Meines Wissens haben Sie diese Nähe bewusst gewählt. Bedeutet es für Sie nach sechs veröffentlichten Büchern eher eine Ehre oder eine Hypothek, in der Tradition Frischs zu stehen? Haben Sie vor, sich von Frisch zu lösen?

Rolf Dobelli: Vom Thema her habe ich mich wohl von Frisch entfernt. Frisch hat hauptsächlich über sich geschrieben, und "Massimo Marini" ist kein Buch mehr über mich -- anders als meine früheren Romane. Frischs Schreibe ist perfekt – klar, ehrlich, wahr. Und natürlich uneinholbar. Für mich eine Art Goldstandard.
In der Schweiz gibt es ja immer diese beiden Pole, entweder ist man Dürrenmattianer oder Frischianer. Ich stehe eindeutig näher bei Frisch.

Media-Mania.de: Wir haben bereits darüber gesprochen, dass Sie für "Massimo Marini" erstmals ein Sabbatical nahmen. Wie haben Sie als sicherlich nicht unterbeschäftigter Manager und Unternehmer Ihre anderen Bücher verfasst?

Rolf Dobelli: Die habe ich in meiner Freizeit geschrieben. Der Zeitaufwand ist natürlich hoch, aber das Schreiben ist mir wichtig.

Media-Mania.de: Ihr erster Roman wurde auf Anhieb von Diogenes angenommen, einem renommierten Verlag. Wie ist Ihnen als "Newcomer" das gelungen?

Rolf Dobelli: Ich habe "Fünfunddreißig" geschrieben und es einfach an Diogenes geschickt – und die wollten es. Herr Keel, der Verleger, hat mich etwa vier Wochen, nachdem ich das Manuskript eingeschickt hatte, angerufen und gesagt, er würde es gern machen. „Kommen Sie nach Zürich, stellen Sie sich vor. Wenn das gut läuft, machen wir gleich einen Vertrag.“ Und so kam es. – Aber das ist eine Ausnahme, da war eine Menge Glück dabei. Diogenes bekommt, glaube ich, jedes Jahr fünftausend Manuskripte unaufgefordert zugeschickt, und davon wird alle drei Jahre eines genommen. Wenn es damals nicht geklappt hätte, hätte ich wohl nicht weitergemacht mit dem Schreiben.

Media-Mania.de: Also bleibt der Autor bei allem Erfolg bescheiden [lacht].

Rolf Dobelli: Wirklich, ich weiß, wie viel Glück und Zufall dahinter steckt.

Media-Mania.de: Arbeiten Sie bereits an einem neuen Roman, und wenn ja, dürfen wir das Thema erfahren?

Rolf Dobelli: Ich habe einen guten Plot im Kopf, aber den dürfen Sie nicht erfahren, denn wenn man den ausplaudert, ist die Energie raus.

Media-Mania.de: Im Namen von Media-Mania.de bedanke ich mich herzlich für das Interview, Ihnen wünsche ich alles Gute und den Lesern noch viele Bücher von Ihnen, an denen wir so viel Freude haben können wie an den bereits erschienenen.

Rolf Dobelli: Dankeschön!

Das Interview wurde am 09.10.2010 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Diogenes Verlags geführt.

Link zur Rezension bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 08.10.2010